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Systemische Aspekte des Hyperkinetischen Syndroms

Ingo Spitczok von Brisinski

Vortrag auf der Fachtagung "Hyperaktivität und Familientherapie" am 2.11.2001 in Glottertal

Gliederung: Kurze Geschichte der Systemischen Therapie - Diagnosen aus systemischer Sicht - Bedeutung von Ursachen für die Therapie - Ausgewählte Konzepte Systemischer Therapie bei HKS


Kurze Geschichte der Systemischen Therapie

1940 publizierte Karl Ludwig von Bertalanffy seine Sichtweise vom Organismus als physikalisches System.

In den folgenden Jahren entstand dann die Familientherapie aufgrund der Idee, das psychische Störungen eines Familienmitglieds durch Störungen der Kommunikation innerhalb der Familie entstehen können.

In den fünfziger Jahren wurde von Gregory Bateson, Don Jackson, Jay Haley & John Weakland (1956) das Konzept der ‚doppelten Botschaft' (im Englischen ‚double bind theory') entwickelt: Man beobachtete in Familien von Patienten mit einer schizophrenen Erkrankung eine Art von Kommunikation, die als ‚doppelbödig' interpretiert wurde, und ging davon aus, dass unerfüllbare Botschaften (z. B. "tu das, was ich möchte, aber tu es freiwillig") als Ursache der schizophrenen Störung des Patienten anzusehen sind.

Don Jackson (1957) entwickelte das Konzept der Familienhomöostase, d. h. er ging davon aus, dass alle Familienmitglieder jeweils ein zueinander passendes Verhalten zeigen, um ein Gleichgewicht innerhalb der Familie zu erhalten. Ändert ein Familienmitglied sein Verhalten (z. B. durch Trennungsabsichten oder Alkoholproblem), so müssen die anderen Mitglieder der Familie ihr Verhalten ebenfalls ändern (z. B. in Form aggressiven Verhaltens), um das Gleichgewicht innerhalb der Familie zu erhalten.

Gregory Bateson (1967) brachte in den 60er Jahren kybernetische Erklärungsmodelle in die Familientherapie ein: Die Familie wird als ein Regelkreis angesehen, an dem der Therapeut durch gezielte Intervention von außen regeln kann.

In den 70er Jahren wurde Salvador Minuchins Strukturelle Familientherapie (1974) sehr populär: psychische Störungen wurden durch Nichteinhalten von Grenzen, insbesondere Generationsgrenzen, erklärt. Das hyperkinetische Verhalten eines Kindes wurde z. B. dadurch erklärt, dass die Eltern keine klaren elterlichen Grenzen ziehen, Entscheidungen dem Kind überlassen, das Kind die Rolle eines Erwachsenen einnimmt. Folgerichtig mussten Eltern und Kind durch gezielte Interventionen des Familientherapeuten dazu veranlasst werden, eine klassische Rollenverteilung einzunehmen, um die psychische Störung des Kindes zu beseitigen.

Mitte der 70er Jahre entwickelte aber auch Ernst von Glasersfeld (1974) das erkenntnistheoretische Konzept des Radikalen Konstruktivismus und ebnete damit den Weg zur Kybernetik 2ter Ordnung (Hoffman, 1987): Während die alten kybernetischen Modelle der Familientherapie (Kybernetik erster Ordnung) davon ausgegangen waren, dass der Therapeut als Beobachter von außen eine Instanz darstellt, die objektiv feststellen kann, welche schädlichen Verhaltensmuster in der Familie vorliegen und wie sich die Familie ändern muss, damit sich die psychische Störung des Kindes auflöst, wurde nun mit dem Konzept der Kybernetik 2ter Ordnung die Rolle des Therapeuten als subjektiver Beobachter gewürdigt. Aus konstruktivistischer Sicht kann kein Mensch eine objektive Wahrheit erfassen, sondern sich immer nur sein eigenes Bild davon machen. Insbesondere auch die biologischen Studien von Maturana und Varela (1980) in den 80er Jahren unterstrichen, dass jeder Mensch ein eigenständiges geschlossenes System ist und seine Wirklichkeit durch seine eigene subjektive Wahrnehmung selbst erzeugt. Es war nun klar, dass kein Therapeut objektiv wissen kann, wie sich die Mitglieder eines Familiensystems verhalten müssen, um das psychische Problem des Kindes zu beseitigen. Außerdem wurde das Konzept der Autopoiese entwickelt, d. h. der Autonomie jedes Menschen. Jeder Mensch lässt sich nur sehr begrenzt dauerhaft direktiv beeinflussen, da er als autonomes geschlossenes System nur die Informationen aufnimmt, die zu seiner Struktur passen. Aus diesem Verständnis heraus ist es kaum möglich, als Therapeut Familienmitglieder direktiv so zu beeinflussen, dass die psychische Störung des Kindes dauerhaft verschwindet. Das psychoanalytische Konzept vom ‚Widerstand' eines Individuums, wenn es sich nicht so verändert, wie es der Therapeut gern hätte, wurde durch das Konzept der Autonomie der Systemmitglieder ersetzt.

In den 80er Jahren wurde die lösungsorientierte Kurztherapie vor allem durch Steve deShazer (1985) zunehmend populär: Nicht die Erforschung von Ursachen in der Vergangenheit steht im Vordergrund, sondern die Suche nach Lösungen in der Zukunft. Es geht darum, die Situationen, in denen das Problem nicht auftaucht, auszubauen, und das Leben so einzurichten, dass das Problem schließlich gar nicht mehr auftritt.

Ebenfalls in den 80er Jahren begründete Ken Gergen (1985) das Konzept des Sozialen Konstruktionismus: Probleme entstehen dadurch, das in der Gesellschaft bestimmte Verhaltensweisen als Problem angesehen werden.


Aus heutiger Sicht ist Systemische Therapie das Schaffen günstiger Bedingungen für das Zustandekommen selbstorganisierter Veränderungen in komplexen psychosoziobiologischen Systemen.


Wie können diese günstigen Bedingungen geschaffen werden?
Um Veränderungen anzuregen, müssen die Interventionen angemessen sein. Um Angemessenheit zu erreichen, bedient sich ein Therapeut seines theoretischen Wissens, seiner therapeutischen Erfahrung und seiner Fähigkeit zur Empathie.
Wie kann der Therapeut das für die aktuelle Familie passende Wissen aus seinem Theorie- und Erfahrungsschatz auswählen? Er erhält Informationen von der Familie über die Vorgeschichte, hat einen aktuellen Eindruck von der Familie und findet Ähnlichkeiten zu bestimmten Familien, die er zuvor behandelte, sowie zu einer Auswahl theoretischer Konstrukte, die er kennt.


Diagnosen aus systemischer Sicht

HKS oder nicht HKS - ist das hier die Frage?
In der klassischen Medizin ist es üblich, eine Diagnose zu stellen, um daraus eine erfolgsversprechende Intervention abzuleiten. In der systemischen Therapie ist das eigentlich nicht anders, allerdings werden dort traditionell nicht Interventionen aus Diagnosen nach ICD oder DSM abgeleitet, sondern aus erfragten und beobachteten Interaktionsmustern. Heißt das, dass es für systemische Therapie völlig irrelevant ist, ob ein Kind Symptome zeigt, die man als Hyperkinetisches Syndrom (HKS), Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) zusammenfassen kann? Ich behaupte: Nein (Spitczok von Brisinski 1999a, b). Und viele systemisch orientierte Kinder- und Jugendpsychiater sehen es ebenso (Spitczok von Brisinski, 1999c).
Dennoch gibt es nach wie vor (nicht nur) systemische Therapeuten wie z. B. Ken Gergen, Harlene Andersen oder Lynn Hoffman (1997), die Diagnosen wie HKS für kontraproduktiv im therapeutischen Prozess halten und davon ausgehen, dass die Verwendung von Diagnosen zur Chronifizierung von Problemen beiträgt.
Viele Pädagogen und Psychotherapeuten befürchten, dass mit Benennung der Diagnose ‚HKS' Kind und Familie nur noch auf Methylphenidat (RitalinR) fixiert sind und jegliches Interesse an pädagogischen oder psychotherapeutischen Maßnahmen verlieren. Das kann sogar soweit gehen, dass Informationen über die Möglichkeit zur Behandlung mit Methylphenidat der Familie vorenthalten werden, weil befürchtet wird, dass die Symptomatik soweit verschwindet, dass der Leidensdruck nicht mehr ausreicht, die Familie für ‚die richtigen', nämlich pädagogische und psychotherapeutische Maßnahmen zu motivieren. Ein ethisch höchst bedenkliches Vorgehen, wie ich meine.

Die Mehrzahl der Familien, mit denen ich zu tun habe, reagiert auf die Thematisierung der Diagnose ‚HKS' nicht so, dass sie nur noch Interesse an RitalinR hat. Ich vermittle den Familien allerdings auch nicht, dass ich objektiv feststellen kann, ob ihr Kind ein HKS hat oder nicht. Denn das kann ich nicht. Ich kann lediglich die Diagnose anbieten, wenn ich meine, dass sie passt, und erläutern, was eher dafür spricht und was eher dagegen.

Diagnosen sind Schlagzeilen zu Geschichten, die Klienten und Fachleute wie z. B. Lehrkräfte oder Kindergartenerzieherinnen erzählen (Spitczok von Brisinski, 2001b).

Nicht vergessen werden darf, dass es sich bei Diagnosen psychischer Störungen nach ICD-10 oder DSM-IV nicht um Tatsachen, sondern um Konstrukte handelt. In der Einführung zur deutschen Ausgabe des DSM-IV (APA, 1996) heißt es dazu ausdrücklich: "Dabei verführt die Scheinsicherheit einer operationalen Definition, die ja vielfach nichts anderes als das Resultat eines politisch determinierten Konsensusprozesses ist, dazu, den mit einem psychopathologischen Begriff gemeinten, oft komplexen Sachverhalt als Realität zu akzeptieren und nicht mehr genauer zu überprüfen."

Obwohl in der Bevölkerung die Ausprägung der Kernsymptome von nicht vorhanden bis stark ausgeprägt beobachtet werden kann und deshalb eigentlich ein dimensionaler Ansatz, etwa mit der Child Behavior Checklist (CBCL) oder einem anderen psychometrischen Verfahren angemessen wäre, wird nach wie vor ein kategorialer Ansatz, nämlich ‚Symptom liegt vor' oder ‚Symptom liegt nicht vor' bzw. ‚Diagnose passt' oder ‚Diagnose passt nicht' verwendet. Eine sehr willkürliche Angelegenheit. Trott (2001) fordert: "Die Diagnose Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung erfolgt nicht kategorial, sondern dimensional. Dies ist für die Indikationsstellung für therapeutische Maßnahmen von größter Wichtigkeit." Ein weiteres Problem: In ICD-10 und DSM-IV wird gefordert, dass die Kernsymptome in mehr als einer Situation in Erscheinung treten. Als Beispiel werden ‚zu hause, in der Klasse und in der Klinik' angegeben. Wie ist es aber nun, wenn die Kinder gar nicht stationär diagnostiziert werden, zu Hause aufgrund des lebhaften Lebensstils der Familie gar keine Kernsymptomatik den Eltern auffällt und das Kind in der Einzelsituation in der kinderpsychiatrischen Praxis auch eher unauffällig wirkt, also nur in der Klasse die HKS-Symptomatik zeigt? Darf dann die Diagnose nicht gestellt werden? Diese Festlegung ist völlig willkürlich. Studien, in denen belegt wird, das eine HKS-spezifische Behandlung Kindern, die nur in der Klasse deutlich ausgeprägte HKS-Symptome zeigen, nicht hilft, existieren nicht.

Es ist also nur begrenzt sinnvoll, das Ziel einer messerscharfen objektiven Diagnostik zu verfolgen (Ludewig, 1991). Viel wichtiger ist es, mit der Familie einen gemeinsamen Nenner zu finden hinsichtlich sinnvoller pädagogischer und therapeutischer Maßnahmen. Andernfalls besteht die Gefahr von ‚Widerstand' oder ‚Non-Compliance' oder die Familie sucht sich jemand anders, der besser zu ihnen und ihrem Problem passt.


Bedeutung von Ursachen für die Therapie

Aspekte einer Stoffwechselstörung
Weit verbreitet sowohl in der Laienpresse als auch in der Fachliteratur ist die Ansicht, dass es sich beim HKS um eine Stoffwechselstörung handelt. Als Beleg für diese Hypothese wird meist angeführt, dass sich in Gruppenvergleichen Unterschiede im Bereich des Dopamin-Stoffwechsels finden lassen oder dass Methylphenidat als in den Dopamin-Stoffwechsel eingreifende Substanz wirkt. Allerdings gibt es trotz umfangreicher Forschung auf diesem Gebiet bis heute kein biologisches bzw. physiologisches Untersuchungsverfahren, mit dem sich, analog etwa zum Diabetes mellitus, im klinischen Alltag beim Patienten ein HKS zweifelsfrei feststellen lässt. Außerdem ist unklar, ob die psychosoziale Symptomatik Folge der Abweichungen im Stoffwechsel ist oder umgekehrt (Hüther 2001).

Nehmen wir dennoch einmal an, ein solcher Test wäre etabliert. Hätte das zur Folge, dass sich die Behandlung auf die Verschreibung von Methylphenidat beschränkt?

Nun, zumindest beim Diabetes mellitus beschränkt sich die Behandlung keineswegs auf die Injektion von Insulin. Vielmehr bilden diätetische Maßnahmen und Lebensgestaltung die Basis der Behandlung. Für Betroffene und deren Familien wie für die behandelnden Ärzte ist klar, dass Aspekte der Lebensführung wie Steuerung von Kalorienverbrauch und Auswahl von Nahrungsmenge und -art unverzichtbar sind für eine erfolgreiche Diabetesbehandlung, ob nun mit oder ohne Insulin. Auch muss die Anwendung des Insulins regelmäßig, mit Bedacht und mit einem sehr hohen Maß an Selbstverantwortung des Betroffenen und seiner Familie geschehen.
Wenn Betroffene und/oder ihre Eltern diese Aspekte nicht zuverlässig beachten, wird versucht, in der Beratung und ggf. psychotherapeutisch auf ein verantwortungsvolles Verhalten hinzuwirken.
All das sollte eigentlich analog auch in der Behandlung des HKS selbstverständlich sein: Basis der Behandlung ist eine angepasste Lebensführung, sowohl bei den Betroffenen, die ohne Medikament auskommen, als auch bei denjenigen, die zusätzlich eine Behandlung mit Methylphenidat benötigen.
Wie bei einem Menschen mit Diabetes die Zusammensetzung der Mahlzeiten mit Bedacht gewählt werden muss, muss bei Menschen mit HKS die Zusammensetzung von Aufgaben, die Aufmerksamkeit erfordern, mit Bedacht gewählt werden. Wie ein Mensch mit Diabetes etwa Speisen mit hohem Zuckergehalt nur sehr begrenzt verarbeiten kann, kann auch ein Kind mit HKS nur sehr begrenzt in der 6. Stunde zusammen mit 30 Klassenkameraden einem mäßig interessanten Unterricht folgen. So, wie ein Kind mit Diabetes es schwer hat, eine angemessene Wahl hinsichtlich Menge und Zusammensetzung seiner Mahlzeiten zu treffen, wenn es in einer Familie aufwächst, für die eine ganz andere Ernährungstradition selbstverständlich ist, ist es auch für ein Kind mit HKS sehr viel verlangt, seine Hausaufgabensituation zu strukturieren, wenn der Alltag im Familienleben eher unstrukturiert abläuft.
Die Organsysteme ‚Magen' - ‚Darm' - ‚Speicheldrüse' interagieren mit den intrapsychischen Systemen ‚Vernunft' - ‚Lust' - ‚Frust' - ‚Motivation' des Betroffenen sowie den sozialen Systemen ‚Familie' - ‚Peer Group' - usw.. Dies alles sollte selbstverständlich sein - ist es das für viele Menschen gerade deshalb nicht, weil der postulierte Stoffwechseldefekt bei HKS noch nicht gesichert ist?


Aufmerksamkeit - eine organisch determinierte psychosozialen Leistung
Ebenfalls weit verbreitet sowohl in der Laienpresse als auch in der Fachliteratur ist heutzutage die Ansicht, dass es sich beim HKS um eine organische Störung handelt. Als Beleg für diese Hypothese wird neben genetischen Befunden meist angeführt, dass sich in Gruppenvergleichen Unterschiede in neurophysiologischen Untersuchungsverfahren beobachten lassen.

Zunächst zur Genetik:
Zwillingsstudien sprechen für 70-95% Erblichkeit (Sherman et al. 1997). Zahlreiche dopaminerge und noradrenerge Gene werden für das HKS verantwortlich gemacht, u. a. die Dopamin-Rezeptor-Gene DRD2, DRD4 und DR5 sowie das Dopamin-Transporter-Gen DAT1 (Winsberg & Comings, 1999). Stimulanzien (Methylphenidat, d-Amphetamin, Pemolin, usw.) setzen am Dopamin-Transporter-Gen an (Seeman & Madras, 1998). Allerdings konnten Gainetdinov et al. (1999) auch bei Mäusen mit fehlendem Dopamin-Transporter-Gen eine Wirksamkeit von Methylphenidat auf die Hyperaktivität nachweisen. Außerdem lassen sich immer nur bei einem Teil der Kinder und Jugendlichen mit HKS bzw. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS bzw. ADHD) genetische Abweichungen finden (z. B. in 30 bis 49% hinsichtlich DRD4). Was ist mit den anderen?
Ein Vergleich zu Menschen mit Sonnenbrand und Hautkrebs: Man findet bei ihnen gehäuft helle Haut (genetisch bedingt). Die Krankheit (Sonnenbrand, ggf. später Hautkrebs) tritt aber in starkem Maße verhaltensabhängig (wie lange bleibe ich in der Sonne?) auf, auch wenn physikalische Maßnahmen wie z. B. Sonnencreme benutzt werden. Andererseits können Menschen mit heller Haut länger in der Sonne bleiben, wenn sie Sonnencreme mit hohem Lichtschutzfaktor benutzen. Obwohl Cook (1999, S. 1480) nicht ohne Stolz auf das Ergebnis einer seiner Studien hinweist, dass ADHD eine der wenigen psychischen Störungen ist, für die ein repliziertes Ergebnis einer Familienbasierten, kontrollierten Studie vorliegt, das auf Assoziationen zu 2 spezifischen Genen (DAT1 und DRD4) hinweist, schreibt er am Anfang desselben Absatzes: "In the case of ADHD, there is evidence of both genetic and environmental risk factors" und am Ende: "It is hoped that the reader is left with an impression of a rich and complicated mix of genetic factors to complement the rich and complex mix environmental factors."

Nun zu neurophysiologischen Untersuchungsmethoden:
In klassischen bildgebenden Verfahren zum Nachweis organischer Ursachen, wie z. B. Röntgenuntersuchung, Computertomographie (CT) oder einfache Kernspintomographie (MRT, NMR bzw. MRI) ließen sich keine konstanten, wesentlichen Unterschiede zwischen Menschen mit und Menschen ohne HKS finden.
Erst mit den in den letzten Jahren entwickelten, verfeinerten neurophysiologischen Untersuchungsmethoden wie transkraniale magnetische Stimulation (TMS), quantitatives EEG, ereigniskorrelierte Potentiale (Spitczok von Brisinski, 1999d, 2001c, 2002c) oder funktionale Kernspintomographie (fMRI) ließen sich gruppenstatistisch Unterschiede nachweisen. Allerdings bilden diese Verfahren physikalische Korrelate lebendiger Vorgänge ab, bei denen sich Ursache und Wirkung nicht voneinander unterscheiden lassen, d. h., es ist nicht möglich, zu unterscheiden, ob verändert empfundene psychosoziale Reize zu einer veränderten neurophysiologischen Reaktion führen oder organisch bedingte Veränderungen. Das wird meist bei der Präsentation der Ergebnisse solcher Studien unterschlagen.

Nehmen wir dennoch einmal an, eine organische Veränderung bei jedem Menschen mit HKS wäre bewiesen. Sollte das zur Folge haben, dass sich die Behandlung auf die Verschreibung von Methylphenidat beschränkt?

Die Einnahme von Methylphenidat wird von manchen Autoren (Ryffel 2001, Skrodzki 2001) mit dem Tragen einer Brille verglichen, um die biologische Sinnhaftigkeit der Einnahme von Methylphenidat bei ADS/ADHS zu unterstreichen. Beim Vergleich von Methylphenidat und Brille lassen sich aber auch noch einige andere Aspekte beleuchten. Dazu zunächst folgender Witz:

Treffen sich zwei Frauen, die sich seit ihrer Mädchenzeit nicht gesehen hatten.
Sagt die eine: "Mein Mann ist kurzsichtig."
Sagt die andere: "Das habe ich mir gleich gedacht!"

Dieser Witz macht deutlich, wie Kurzsichtigkeit (Myopie) eng mit psychosozialen Prozessen verknüpft ist. Man kann Scharfsehen als organisch determinierte psychosoziale Fähigkeit bezeichnen: kurzsichtige Menschen, die aus Eitelkeit keine Brille tragen und, aus welchem Grund auch immer, auch keine Kontaktlinsen, finden sich immer wieder in schwierigen psychosozialen Situationen wieder, etwa, wenn sie etwas nicht lesen können oder Personen nicht wiedererkennen.
Lesen ist eine in unserer Gesellschaft sozial äußerst wichtige Kulturtechnik, die durch nichtkorrigierte Fehlsichtigkeit ernsthaft beeinträchtigt sein kann.
Nun wissen wir sehr genau: Kurzsichtigkeit entsteht dadurch, dass sich die Linse nicht ausreichend anpassen kann bzw. der Augapfel zu lang ist. Also eine rein physikalische Angelegenheit, die durch eine rein physikalische Maßnahme, nämlich Brille oder Kontaktlinse, behandelt wird.
Mehrere Studien (z. B. Hepsen et al., 2001) weisen allerdings auch darauf hin, dass vermehrte Arbeit mit visueller Beanspruchung im Nahbereich (z. B. Lesen, Bildschirmarbeit) vermehrt zu Kurzsichtigkeit führt, auch bei fehlender familiärer Myopiebelastung (Mohan et al., 1988). Auf dem Lande lebende Bevölkerung hat eine besser erhaltene Sehkraft als die städtische Bevölkerung (Saw et al., 2001). In Deutschland tragen mittlerweile 61%, also die Mehrheit, eine Brille (Schulz, 2000).
Obwohl zahlreiche wissenschaftliche Studien auf psychosoziale Ursachen der Zunahme von Kurzsichtigkeit hinweisen, gibt es bisher keine ernsthaften Bemühungen zur Prävention.
Analog sind die Bedingungen für den Erhalt einer länger andauernden Fähigkeit zur Aufmerksamkeit in unserer heutigen Gesellschaft, insbesondere in den Städten mit ihrem intensiven Lebenstempo, sicher nicht günstig. Auch hier gibt es bisher keine ernsthaften Bemühungen zur Prävention. Es wird immer wieder behauptet, psychosoziale Faktoren spielten keine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Aufmerksamkeitsstörungen, obwohl es eine Reihe von Studienergebnissen gibt, die auf die Wichtigkeit psychosozialer Faktoren verweisen (Gingerich et al. 1998).
Mit Recht beklagt hypies.com: "Die Leistungserwartung der Eltern und aber auch der Lehrer hat sich zunehmend verschärft, niemand glaubt mehr so recht an ein gutes, ehrliches Leben in einfachen Berufen. Dennoch lesen wir über die Institution Schule als wichtigstem Stressor und Auslöser von Selbstmanipulation so gut wie nichts im Sucht- und Drogenbericht." Während die Freizeit einen immer höheren Stellenwert einnimmt und in dieser Freizeit mit immer größerer Intensität, auch ‚Kick' genannt, mit immer größerer Geschwindigkeit Reize vermittelt werden (so wie es Kinder mit HKS lieben), wurde in der Schule die 45minütige Einheit beibehalten und durch Begrenzung auf eine 5-Tage-Woche sogar der Schultag verlängert.
Auch zur Vereinzelung in der Freizeit (allein vor dem Fernseher oder Computer, hier haben auch die meisten Kinder mit HKS keine wesentlichen Aufmerksamkeitsprobleme) zeigt sich keine parallele Entwicklung in der Schule: die Klassen sind wieder bei einer durchschnittlichen Schülerzahl von 30 angelangt.

Die Gabe von Methylphenidat ist einfacher umzusetzen, als mehr Lehrkräfte einzustellen, die Lernbedingungen zu optimieren, Eltern und Lehrer zu qualifizieren, Psychotherapie durchzuführen, Wertmaßstäbe zu ändern. Dennoch wird kaum jemand bezweifeln, dass ein Teil der Kinder mit HKS kein Methylphenidat bräuchte, wenn die schulischen Bedingungen besser wären.

Ich möchte diese Ausführungen aber nicht als Klagelied verstanden wissen, sondern als Chancen für die Zukunft.


Was können wir jetzt - sofort - tun?

Ausgewählte Konzepte Systemischer Therapie bei HKS

Kontextorientierung - Lösungsorientierung
Aufmerksamkeitsstörungen sind bei den meisten Kindern und Jugendlichen kontextabhängig. In der Regel gibt es kaum Probleme, längere Zeit vor dem Fernseher oder Computer zu sitzen. Viele Kinder mit HKS haben auch in der in Einzelsituation durchgeführten testpsychologischen Untersuchung keine deutlichen Konzentrationsprobleme. Schwierig ist es dagegen typischerweise in der Schule, wenn das Kind auch bei weniger interessanten Themen in der 6. Stunde 45 Minuten lang zusammen mit 30 Mitschülern dem Unterricht folgen soll, kurzum: in Gruppensituationen mit längerfristiger geistiger Leistungsanforderung.

Kontextorientierung in Bezug auf schulische Probleme heißt, mit den Lehrkräften des Kindes und dem betroffenen Schüler zu beraten, welche Veränderungen im schulischen Alltag erfolgsversprechend und welche umsetzbar sind.

Lösungsorientierung heißt, sich auf Lösungen des Problems statt auf mögliche Ursachen zu konzentrieren: Oftmals gehen Lehrkräfte davon aus, das die Verhaltensprobleme in der Schule durch mangelnde Erziehung verursacht sind und haben die Eltern mehrfach dazu aufgefordert, ihr Kind konsequenter zu erziehen, oft ohne dauerhaften Erfolg. Hilfreicher ist es, zu beobachten, in welchen Situationen das Kind weniger Aufmerksamkeitsprobleme im Unterricht hat, und zu versuchen, diese Situationen auszubauen:

Beispiele zur Kontextgestaltung in der Schule

  • Sitzplatz: vorn allein an einem Tisch oder neben einem ruhigen Kind (nicht an Gruppentischen, in der Ecke eines U's oder am Fenster)

  • Kontakt: häufig Augenkontakt suchen, Schulter berühren, aufs Heft zeigen

  • Bewegungsdrang: Kritzeln lassen, etwas holen lassen, einen zweiten Platz in der Klasse zuteilen, eine Runde um den Schulhof laufen lassen

  • Strukturen: klare, deutliche, eindeutige, genaue, regelmäßige Vorgaben, kurze Zeiteinheiten (freie Arbeit über längere Zeit ist eher schwierig)

  • Feedback: direkte, zeitnahe und deutliche Rückmeldung von erwünschtem wie unerwünschten Verhalten
  • Kontextorientierung in Bezug auf familiäre Probleme heißt, nicht den Eltern vorzugeben, wie sie ‚richtig' mit ihrem Kind umgehen sollen, sondern gemeinsam auszuloten, was erfolgsversprechend und was von der Familie umsetzbar ist: Gangbare Lösungen für ein und dasselbe Problem können in unterschiedlichen Familien sehr unterschiedlich ausfallen (Spitczok von Brisinski, 2002a). Wenn ein Kind mit HKS z. B. positiv auf konsequente Erziehung reagiert, liegt es nahe, die Eltern anzuregen, konsequenter zu sein. Für manche Familien ist das auch tatsächlich ein Weg, die Probleme des Kindes zu verringern.
    Es gibt aber auch Eltern, die versuchen bereits, so konsequent wie möglich zu sein. Doch reicht die Konsequenz nicht aus, obwohl sie ihr Bestes geben: Sie können einfach nicht dauerhaft konsequenter sein, so wie ein schlanker Mensch nicht Boxweltmeister im Superschwergewicht werden kann. Für das Kochrezept ‚konsequentere Erziehung' fehlt also eine wichtige Zutat. Das bedeutet: Das Rezept muss abgewandelt werden. Oder es muss ein ganz anderes Rezept gewählt werden, denn es stellt sich die Frage: Ist es sinnvoll, rheinischen Sauerbraten kochen zu wollen, wenn kein Rindfleisch zur Verfügung steht?

    Auch gibt es Eltern, die in einer Zwickmühle stecken: Z. B. haben sie ihre eigene Erziehung als zu streng empfunden und sich vorgenommen, dies bei ihren Kindern anders zu machen.
    Diese Eltern sind der Ansicht, bereits konsequent genug zu sein. Wenn nun der Therapeut ihnen vermittelt, konsequenter in der Erziehung zu sein, so mag es geschehen, dass sie diese bittere Medizin zunächst schlucken. Wenn sie im Anschluss an die Behandlung aber das Rezept zu Hause nachkochen, wird es ihnen nicht schmecken. Und Gerichte, die nicht schmecken, kocht man nur einmal.
    Schließlich gibt es Eltern, die sich situationsbedingt (z. B. Todesfall in der Familie oder Trennungsabsichten eines Ehepartners) vorübergehend nicht in der Lage sehen, konsequenter zu erziehen. Zu einem späteren Zeitpunkt (nach Abklingen der aktuellen Lebenskrise) sind sie aber durchaus dazu in der Lage. So, wie ein guter Koch Rezepte und Zutaten saisonabhängig auswählt und eine Auswahl entsprechender Gerichte anbietet, muss ein guter Systemischer Therapeut eine Auswahl guter Rezept-Ideen vorstellen, damit die Familienmitglieder entscheiden können, welches Gericht ihnen zu welcher Zeit schmeckt und welches Gericht sie zu welcher Zeit kochen können und möchten.

    Bei vielen Kindern mit HKS gibt es zusätzlich das Problem, dass ein Elternteil ebenfalls eine HKS-Problematik hat. Wenn dann von diesem Elternteil verlangt wird, dem Kind einen ruhigen, strukturierten Alltag mit durchgängig gültigen Regeln und klaren Grenzen zu bieten, ist dies, vorsichtig ausgedrückt, nicht unbedingt erfolgsversprechend.

    Therapeuten reden bei all diesen Komplikationen gern vom ‚Widerstand' der Eltern oder von fehlender ‚Compliance'. Aus systemischer Sicht muss aber eher davon ausgegangen werden, dass der Therapeut es nicht geschafft hat, gemeinsam mit der Familie passende Lösungen zu entwickeln.


    Systemische Aspekte einer medikamentösen Behandlung
    Ich habe bereits einige Aspekte zur Wirkung psychosozialer Faktoren auf organische Störungen erwähnt. Spitzer (2000) hat in seiner Publikation "Was Psychiater von Flusskrebsen lernen können" anhand der Ergebnisse tierexperimenteller Studien die enge Wechselwirkung von psychosozialen und chemophysikalischen Faktoren eindrucksvoll erläutert. U. a. referiert er dort eine Studie, die nachweist, dass ein Kampf zweier männlicher Flusskrebse von etwa 20 Minuten zu einer anhaltenden Veränderung des Serotonin-Stoffwechsels führt: ein psychosoziales Ereignis von kurzer Dauer führt zu einer dauerhaften biologischen Veränderung einhergehend mit verändertem psychosozialem Verhalten.
    Die Hoffnung wohl jedes Psychotherapeuten ist, durch während der Therapiesitzungen initiierte psychosoziale Ereignisse eine dauerhafte positive Veränderung im psychosozialen Verhalten des Patienten zu erreichen. Wenn nun bei HKS Stoffwechselveränderungen beobachtet werden und laut tierexperimenteller Studien eine dauerhafte Beeinflussung des Stoffwechsels durch psychosoziale Ereignisse möglich ist, könnte man meinen, ganz auf Medikamente verzichten zu können. Im klinischen Alltag ist dies zwar durchaus immer wieder möglich, dennoch kenne ich Kinder und deren Familien, die einen langen Leidensweg hinter sich haben trotz sonder- und heilpädagogischer Maßnahmen, Ergotherapie, Psychomotorik, Verhaltenstherapie, Psychotherapie und Familientherapie, ambulant und stationär, und erst eine suffiziente Behandlung mit Methylphenidat einen anhaltenden, ausreichenden Erfolg bringt.

    Aus meiner Sicht muss eine zeitgemäße systemische Therapie potentielle Ressourcen einer zusätzlichen medikamentösen Behandlung mit in Betracht ziehen. Dabei erscheint es mir wichtig, auch in der medikamentösen Behandlung systemische Konzepte anzuwenden (Spitczok von Brisinski, 2002b).


    Kundenorientierung
    So, wie in der modernen systemischen Psychotherapie Interventionen nicht verordnet, sondern angeboten werden, gehe ich auch in der Behandlung mit Methylphenidat davon aus, dass ich als Arzt nicht objektiv feststellen kann, ob ein Kind RitalinR bzw. MedikinetR braucht, sondern dass ich eine solche Behandlung dem Kind bzw. seinen Eltern anbieten kann, wenn ich dieses Angebot für sinnvoll halte. Die Entscheidung, ob dieses Angebot angenommen wird oder nicht, liegt beim Kind und den Eltern. Damit Kind und Eltern diese Entscheidung treffen können, müssen sie sich ausreichend informieren. Die Informationen vom Arzt werden idealerweise durch andere Informationsquellen wie Bekanntenkreis und Medien, insbesondere Bücher und Internet (Spitczok von Brisinski, 2000), ergänzt. Dem Kind (und auch vielen Psychotherapeuten) fällt es leichter, eine unterstützende medikamentöse Therapie zu akzeptieren und zu nutzen, wenn nicht vermittelt wird, dass das betroffene Kind eine Stoffwechselstörung, also letztlich eine Gehirnkrankheit, hat, sondern, dass es das Medikament als Werkzeug nutzen kann, um einige Probleme leichter zu meistern.

    Aus meiner Sicht ist meine Brille (ich gehöre zur Mehrheit der Brillenträger) zwar vom Arzt verschrieben, aber sie ist nicht das Werkzeug des Arztes, sondern mein Werkzeug: Ich gebrauche die Brille. Der Arzt sucht eine passende Stärke für die Gläser aus (unter Berücksichtigung meiner Angaben) und füllt den ‚Bestellschein' aus. Analog verhält es sich mit Methylphenidat: Es ist das Werkzeug des Kindes. Eltern und Arzt/Therapeut sollten es darin unterstützen, mit diesem Werkzeug kompetent umzugehen.


    Zu viele Probleme?
    Familien, in denen ein Mitglied oder mehrere Probleme haben, die man als HKS bezeichnen kann, haben gar nicht so selten noch einen Haufen anderer Probleme. Manchmal können diese anderen Probleme nicht ohne Unterstützung gelöst werden und bedürfen z. B. einer Familientherapie. Nicht immer aber sind die HKS-Probleme Ausdruck dieser Familienprobleme und nicht immer bilden sich die HKS-Probleme ausreichend zurück, wenn ausschließlich auf die anderen Familienprobleme eingegangen wird. Und nicht jedes Familienproblem ist behandlungsbedürftig. Für Therapeuten ist es manchmal sehr schwierig, behandlungsbedürftige von nicht behandlungsbedürftigen Problemen zu unterscheiden und kausale Verknüpfungen sind in der Regel subjektiv, d. h. nicht automatisch richtig, weil sie einem Experten in den Kopf kommen. Schmeck et al. (2001) weisen nachdrücklich auf das Problem der Verwechselbarkeit von Ursache und Wirkung bei der Entstehung von Aufmerksamkeitsstörungen hin, Warnke (2001) schreibt dazu: "Tatsächlich sind uns die Ursachen der Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung nicht bekannt. Indessen ist außer Frage, dass - nachdem sie nun einmal besteht - eine allein psychogene Begründung des Symptoms obsolet ist."


    "Wer suchet, der findet!"

    Je mehr ein Therapeut nach Problemen in der Familie als Ursache der HKS-Symptomatik sucht, desto mehr ‚falsch positive Befunde' wird er auch finden: N=1 und unendlich viele Variablen führen unweigerlich zu einem großen Alpha-Fehler. Wenn versucht wird, all diese als ursächlich für die Störung angesehenen Interaktionsmuster zu behandeln, kann man u. U. Kind und Familie einen Bärendienst erweisen (Spitczok von Brisinski, 2001a). Furman und Ahola (1995, S. 61) schreiben dazu: "Als sie die Praxis betrat, hatte sie ihr Problem sozusagen in einer Plastiktüte dabei - wenn sie sie wieder verlässt, ist sie zum Zusammenbrechen beladen mit Plastiktüten, jede mit einem anderen Problem darin." Weiterhin schreiben sie (1996, S. 14): "Nach unserer Meinung sind TherapeutInnen so etwas wie Taschendiebe unter NudistInnen. Einige sehen Taschen vorne, andere sehen sie hinten, je nach ihrer Spezialisierung. Die TherapeutIn muß tatsächlich ihrer KlientIn Taschen aufnähen, um mit Taschendiebstahl anfangen zu können. Glücklicherweise sind KlientInnen überaus großzügig und lassen TherapeutInnen fast jede Art von Tasche aufnähen, um die TherapeutIn ihre Arbeit machen zu lassen. Wenn KlientInnen aber zeigen, daß sie sich beim Aufnähen unbehaglich fühlen, wird das schlicht Widerstand genannt."

    Ressourcenorientierung
    Ressourcenorientierte systemische Therapeuten sollten aber eher so etwas wie Weihnachtsmänner unter NudistInnen sein: Sie sehen Gaben aller Art und laden die KlientIn ein, sackweise Fähigkeiten und Stärken mitzunehmen:

    Beispiele für Stärken von Kindern mit HKS

    aktiv

    energisch

    engagiert

    flexibel

    hilfsbereit

    kreativ

    lebhaft

    offen für neue Eindrücke

    reaktionsschnell

    sensibel

    spontan

    sportlich

    Wenn KlientInnen aber zeigen, dass sie sich beim Behängen mit Ressourcen unbehaglich fühlen, sollte sich die systemische TherapeutIn hüten, dies Widerstand zu nennen. Griesinger schrieb bereits 1845, dass nicht die Therapie die beste ist, die den Gefühlen des Arztes gut tut, sondern die, die dem Patienten hilft.

    Oder, anders ausgedrückt:

    Wenn die Familie die Therapiesitzung beginnt, hat sie ihr Problem in einer Plastiktüte dabei - wenn sie sie beendet, sollte sie gut beladen sein mit Plastiktüten, jede mit einer anderen Fähigkeit oder Lösung darin. Welche Plastiktüten wo und wann ausgepackt werden, obliegt der Familie.



    Literatur

    American Psychiatric Association (1996): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-IV. Göttingen - Bern - Toronto - Seattle: Hogrefe

    Bateson, G. (1967): Kybernetische Erklärung. In: Bateson, G. (1972): Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Bateson, G., Jackson, D.;Haley, J. & J. Weakland (1956): Toward a theory of schizophrenia. Behavioral Science, 1, (4), 251-264

    Cook, EH. (1999): The Early Development of Child Psychopharmacogenetics. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry, 38:12, 1478-1481

    de Shazer, S. (1985): Keys to Solution in Brief Therapy. New York: W. W. Norton

    Furman, B. u. T. Ahola (1995): Die Zukunft ist das Land, das niemandem gehört... Stuttgart (Klett-Cotta).

    Furman, B. u. T. Ahola (1996): Die Kunst, Nackten in die Tasche zu greifen. Dortmund (borgmann).

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    Kontaktadresse:
    Dr. med. Ingo Spitczok von Brisinski
    Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
    Rheinische Kliniken Viersen
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    Tel. 02162/965005
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